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APFELKUCHEN

Manchmal ist das Leben ein missglückter Apfelkuchen ... und manchmal ein gelungener. Und manchmal ist das völlig egal, weil er unbemerkt abkühlt, obwohl doch der Gedanke an die ersten warmen Bissen der Grund war, warum man sich die Hände, die Ärmel und den ganzen Küchenboden mit Mehl versaut hat.


Während wir stritten, passierte genau das – der Kuchen stand in der Mitte zwischen uns und dampfte immer weniger und verzweifelter wie ein Streichholz kurz vorm Abbrennen. Und wir beachteten ihn nicht, bis er schließlich, wohl oder übel, aufgeben musste.


Sami sagte gerade: „... und du warst immer schon nachtragend“ und ich heulte und dann verstummten wir beide und starrten auf den Kuchen, der nicht mehr dampfte, sondern still und traurig und kalt rumstand.


Da griff Sami sich eine Gabel und stach hinein, nicht am Rand, sondern so richtig in die Mitte und ich heulte noch mehr, weil ich heule, wenn ich wütend bin, und ich schrie: „Spinnst du?“


Sami schob sich die Gabel in den Mund und kaute, als wäre es ein Wettbewerb und schluckte, als wäre das Stück dreimal so groß. Es war offensichtlich, dass er keine Lust auf Kuchen hatte. Es war offensichtlich, dass er gerade versuchte, seine Wut mit dem Kuchen runterzuschlucken.


Er stach weiter hinein, immer wieder in die Mitte, wo die saftigsten Apfelstücke lagen und ich konnte nicht mehr reden vor Wut und Tränen. Ich hatte das Gefühl, dass der Kuchen mein Magen war, der da massakriert, ausgeweidet wurde. Worte, die ich sonst nie dachte, die Sami manchmal genussvoll sagte, wenn er einen seiner blöden Filme schaute, bei denen mir selbst mit einem Kissen vorm Gesicht schlecht wurde.


„Und deine Scheißfilme“, sagte ich jetzt.


Sami ließ seine Gabel fallen, mitten in das Kuchenloch, das er gegraben hatte. „Ernsthaft“, sagte er. „Die willst du mir jetzt vorwerfen, ja?“


„Die sind nur ein Beispiel“, sagte ich und fuchtelte in Richtung des Kuchens. „Wie das hier. Wie alles, was du tust. Du denkst einfach nur an dich.“


Sami stand auf. „Da hast du deinen Kuchen. Den kannst du jetzt ganz allein aufessen.“


„Toll“, sagte ich. „Deine Scheißreste will ich nicht.“


„Okay“, sagte Sami und nahm den Kuchen in den Arm wie ein Kind.


Und dann nahm er seine Münzen und Scheine, die wie immer verteilt auf dem ganzen Küchentisch lagen, und stopfte sie sich in die Hosentasche.


„Ein Mensch, der nicht mal ein Scheißportemonnaie hat“, sagte ich. „Was hab ich mir nur dabei gedacht?“


„Kraftausdrücke sind nicht unbedingt ein Ausdruck deiner Kraft“, sagte Sami. „Auch wenn das so klingt.“


„Hau ab“, sagte ich. „Nimm den Scheißkuchen und dein Scheißgeld und deine Scheiß-widerliche Zahnbürste und hau ab.“


„Bin ich froh, dass wir nicht zusammengezogen sind“, sagte Sami.


Ich rannte ins Bad und zog mit spitzen Fingern seine Zahnbürste aus ihrem Becher, der innen völlig weißverschleimt war, weil Sami ihn noch nie ausgewaschen hatte.


„Weißt du was? Du bist dieser Scheiß-Zahnputzbecher“, sagte ich zu ihm und warf ihm beides entgegen. Der Becher landete genau in dem Kuchenloch, die Zahnbürste prallte ab und fiel zu Boden.


„Kannst du behalten“, sagte Sami. „Als Andenken.“


„Ich brauch kein ...“


„Scheiß-Andenken“, sagte Sami. „Schon klar.“


Dann verstummten wir und starrten beide auf den Kuchen und das Loch, in dem der gammlige rosa Zahnputzbecher steckte.


„Lachst du etwa?“, fragte Sami.


„Nein“, sagte ich. „Du?“


„Nein“, sagte er. Sein ganzer Körper zitterte so, dass ihm der Kuchen aus der Hand rutschte. Der Zahnputzbecher rollte in den staubigen Spalt unterm Schuhschrank, den wir beide beim Saugen immer ausließen.


„Wie hat der Kuchen eigentlich geschmeckt?“, fragte ich.


„Scheiß-lecker“, sagte Sami.


„Echt?“, fragte ich.


Ich hockte mich auf den Boden und klaubte ein Stück Kuchen aus der Mitte heraus.


„Das ist echt scheiß-lecker“, sagte ich.


Ich ließ mich auf den Hintern fallen. Sami setzte sich auch hin, langsam tat er das, ein bisschen so, als wäre ich ein wildes Tier, das jederzeit wieder nach ihm schnappen könnte.


„Wieso haben wir das nie vorher gemacht?“, fragte ich.


„So gestritten?“, fragte Sami. „Stimmt, das ist echt toll, hätten wir schon früher drauf kommen können.“


„Direkt aus der Mitte gegessen.“


Sami zuckte mit den Schultern. „Eins steht fest: Du bist der Einzige, der so guten Apfelkuchen backen kann, dass er selbst an so einem Scheiß-Tag schmeckt.“


„Und du bist der Einzige, der Kraftausdrücke so verwenden kann, dass sie lieb klingen“, sagte ich.


Wir starrten beide eine Weile weiter auf den Kuchen, bis ich sagte: „Dann tu halt deine Scheiß-Zahnbürste zurück ins Bad.“


Und Sami beugte sich über den Apfelkuchen zu mir und gab mir einen Kuss.

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