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DAS VERSTECK

Wir sagen: Wir sind es wert, dass unsere Bedürfnisse gehört werden. Dass wir in der Straßenbahn gleich viel Platz zum Sitzen haben wie die neben uns. Dass wir für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Dass wir einen kurzen Rock tragen dürfen, ohne im Laufe des Abends mit einer übergriffigen Hand oder einem übergriffigen Spruch rechnen müssen. Dass wir Arbeit und Kinder haben können und dabei nicht auf dem Zahnfleisch kriechen müssen. Dass wir keine Arbeit und oder keine Kinder haben können und uns nicht dafür erklären müssen. Wir sind es wert. Das sagen wir. Hoffen wir. Sprechen wir einander nach. Wir fühlen uns stark in der Gegenwart der anderen. Wenn wir allein in der Bahn sitzen, spüren wir die Blicke auf unsere haarigen Schienbeine und würden sie am liebsten ganz schnell bedecken oder mit dem Blick glattrasieren. Spüren wir den Oberschenkel des breitbeinig sitzenden Mannes neben uns und drücken – ganz automatisch – unsere Beine zusammen. Allein ist es leichter, ins Versteck zurück zu kriechen. Das Versteck heißt: glattrasierte Beine, Achseln, Bikinizone (im Versteck spricht man nicht von Vulven). Das Versteck heißt: lieber keinen Ausschnitt tragen bei wichtigen Gesprächen. Das Versteck heißt: Ganz viel weghören bei Familientreffen, bei Kollegen (Gendern tun wir auch nicht im Versteck), im Supermarkt, in der Bahn. Wegschauen. Das Versteck heißt auch: Betäubung. Den Instagramfeed entlangscrollen, Werbung anklicken, superabdeckendes Makeup bestellen gegen die Pickel, Wimpernserum kaufen gegen die zu kurzen Wimpern, pobetonende Leggings kaufen und kaufen und kaufen und kaufen. Und uns dann im Spiegel ansehen und hassen, was wir sehen. Dann ganz viel trinken und uns und den anderen vorgaukeln, wir hätten Spaß auf der Party, allein auf dem Sofa, beim Date. Das Versteck heißt auch: Selbsthass. Und dadurch den Hass der anderen akzeptieren, sogar verstehen können. Ihr sagt, wir seien nichts wert? Da habt ihr recht. Das glauben wir, ganz insgeheim, bis wir wieder aufeinandertreffen und weinen und merken: Wir können nicht mehr – wir müssen hier raus.


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