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KAUGUMMIBLAU

Autorenbild: Selene MarianiSelene Mariani

„Krieg ich einen?“, fragt der Große.


„Oh“, sage ich, weil der Große sonst nie um etwas bittet.


Nicht, seit es den Kleinen nicht mehr gibt. Seit die Bewegungen der Mutter aussehen wie Daumenkino, seit der Vater verschwunden ist und ich mir die Klappliege in sein altes Arbeitszimmer stellte – vorübergehend, sagten wir, aber das ist jetzt beinahe ein Jahr her und er ist immer noch verschwunden und den Kleinen gibt’s nicht mehr, und solange meine Tochter flach und weiß aussieht wie Papier, bleibe ich.


Wir schweigen eine Weile und irgendwann – das passiert mir jetzt öfter, viel zu oft – habe ich vergessen, was das Thema war.


Doch der Große weiß es noch: „Krieg ich einen?“


Und ich sage: „Klar.“



Später laufen mein Rollator und ich suchend durch das Viertel. Da vorn ist die Straße, in der damals mein bester Freund Wolfi wohnte. Neben dem Spielplatz, da, wo jetzt die zwei identischen Häuser stehen mit hölzernen „Home sweet home“-Schildern an den Türen.

Ich wische mir mit dem Taschentuch über die Stirn. Darüber, dass ich mich weigere, Papiertaschentücher zu verwenden, lachte meine Tochter, als es den Kleinen noch gab. Sie lachte laut, unpassend laut, fanden zumindest unsere Nachbarn, die manchmal an langen Brettspielabenden bei uns klingelten.


Es nieselt auf meine Kopfhaut, meinen Nacken, den ich mir nicht mehr auszurasieren brauche. Es nieselt auf meinen Rollator, den mir meine Tochter aufzwang und den ich erst hasste und jetzt doch brauche wie einen Freund, an den man sich so gewöhnt hat, dass man meint, ihn zu mögen.



So wie Wolfi damals, ein anstrengender Bursche eigentlich, aber er kam jeden Tag vorbei und sagte: „Hast du Zeit?“


Die hatte ich. Zum Herumtreiben, Ball spielen, Eis essen.


Plötzlich fällt sie mir ein: die alte Eisdiele – ob es die noch gibt? Ich könnte meine Tochter anrufen und fragen, aber seit es den Kleinen nicht mehr gibt, macht der Klang ihrer Stimme meinen Körper taub und dann würde ich es nicht zur Eisdiele und erst recht nicht mehr nach Hause schaffen.


Also laufen wir weiter, mein Rollator und ich, und schließlich, endlich, taucht das Holzschild auf, immer noch das von damals: eine Eistüte mit drei Kugeln darin – Vanille, Schokolade und Erdbeer.


Mehr Geschmäcker gab es nicht und Wolfi mochte nur Erdbeer, das aber sehr. Er aß immer mindestens vier Kugeln. Ab sechs musste er sich übergeben, und trotzdem kaufte er mindestens einmal die Woche sieben Kugeln, sieben pro Kopf. Ich aß alle sieben und danach noch Abendbrot, damit Mutter und Vater nichts merkten. Ich aß die sieben Kugeln mit Vergnügen, weil es so etwas bei uns nicht gab, nur Häckerle und Pumpernickel, und Wolfi aß sie, weil er jedes Mal wieder vergaß, wie schlimm es gewesen war, sich zu übergeben.



Mein Rollator und ich gehen näher an die Scheibe heran, bis wir dagegen stoßen. Da drinnen ist keine Theke und kein kleiner alter Mann, der Eisverkäufer mit dem sommersprossigen Lächeln, der ist sicher schon dreißig Jahre tot. Hinter der Scheibe sind jetzt Schreibtische aus falschem Holz und ein paar blattlauszerfressene Topfpflanzen.


Der Wolfi in meinem Kopf dreht sich enttäuscht um und geht hinaus, zum Automaten. Der Automat ist der Grund, warum ich hier bin, erinnere ich mich. Gibt es den noch?



Damals sagte Wolfi ungefähr einmal die Woche und ungefähr an dem Tag, an dem er sieben Eiskugeln bestellte: „Jetzt noch Kaugummis!“ Und dazu funkelten seine Augen wie wahnsinnig.

Mein Rollator hängt fest, wie einmal der Automat und Wolfi trat dagegen, bis plötzlich fünf Kugeln herauskullerten statt zwei. Die blauen Kaugummis mochten wir am liebsten. Wir stopften sie uns in die Münder, die sieben Eiskugeln tropften vergessen in unsere Ärmel und wir machten die größten Kaugummiblasen der Welt und ließen sie auf unseren Gesichtern zerplatzen.



Endlich habe ich den kleinen Stock entdeckt, der sich unten in den Rädern festgehakt hat, ich atme tief ein, während ich mich aufrichte, neuerdings muss ich das, sonst bleibe ich einfach auf halber Strecke stecken.


Ich drehe mich um und sehe ihn – den gleichen Kaugummiautomaten wie damals. Die Bilder, die schon von weitem bunt glitzerten, sind jetzt blassblau, doch da drin warten immer noch die bunten Kugeln.


Wolfis Augen leuchten vor mir auf, bevor er verschwindet, stattdessen sehe ich das Gesicht des Großen vor mir, durch eine riesige blaue Kaugummikugel, die auf seiner Nase zerplatzt.

Meine Zitterfinger fischen nach dem Geldstück, ich werfe es ein, drehe am Griff.

Der Regen wird stärker, es passiert nichts.


Ich muss zurück zum Großen, der wartet, und zur Tochter, die sich Sorgen macht, sobald man fünf Minuten zu spät ist, seit es den Kleinen nicht mehr gibt.


Ich starre auf den Automaten mit seinen verblassten Bildern. Klein und schwach sieht er aus, ein Wunder, dass er überhaupt noch steht. Wie gern würde ich darüber lachen, dass ich glaubte, er könnte funktionieren, doch selbst dazu bin ich zu müde.


Ich stütze mich auf meinem Rollator ab und mache mich bereit zum Loslaufen.


Da rasselt es plötzlich laut.


Ich hebe die rote Klappe an. Da liegt er: ein blauer Kaugummi. Ich schiebe die kostbare Kugel in meine Jackentasche.


Dann laufen mein Rollator und ich so schnell wir können durch den Regen zurück, das Lachen des Großen vor Augen: unpassend laut – wie früher bei seiner Mutter.

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